27.08. – 31.08.2012. 495 km. Der geneigte Leser mag sich fragen, warum in aller Welt ich nach Edmonton und nicht nach Vancouver fahre. Berechtigter Gedanken. Vancouver wäre ein logisches Ziel, eine schöne Strecke. Nun, die einen Radler legen ganz rational Wert auf viele Kilometer, die anderen folgen irrational ihren Gefühlen. Oder wie war das?
Route: Banff – Cochrane – Sundre – James River Bridge* – Spruce View – Sylvan Lake – Bentley* – Pigeon Lake – Thorsby – Calmar* – Devon – Edmonton
27.08.2012. Aufbruch. Heute auf getrennten Wegen. Monika begibt sich als erste auf die Strasse. Sie fährt wieder runter nach Banff, Alvaro und ich können beim Camping auf die andere Seite abbiegen. Wir werden noch einen Tag gemeinsam fahren, wir werden uns erst in Cochrane verabschieden. Es geht kurz rauf, dann folgt auch hier die Abfahrt zum Highway 1. Doch nun hat’s netterweise parallel zum Highway einen Biketrail. Der Legacy Trail führt meist flach durchs Gelände, bis er beim Nationalpark Gate ein ziemlich abruptes Ende findet. Goodbye Nationalpark, ab jetzt wird keine Wild Permit mehr benötigt. Wie schade… Bald folgt Canmore. Alvaro muss schnell Internetzugang haben, d.h. es gibt bei McDonald’s einen Kaffee. Dann fahren wir auf dem Highway 1A oder Bow Valley Trail weiter. Mit Rückenwind kommen wir im heutigen leicht hügeligen Gelände gut voran. Wir fliegen richtiggehend aus den Rockies raus. Bei Kananaskis machen wir eine lange, gemütliche Mittagspause. Mit Rückenwind geht’s weiter, obwohl sich der Wind nun manchmal zu Gegenwind dreht. Die Gegend wird zunehmend flacher, das Grün des Waldes wird vom Gold der Felder abgelöst. Prärie.
Irgendwie muss die Luft hier draussen viel trockener sein, ich habe enormen Durst und komme mit Wasser nachleeren kaum nach. Nach guten 80 km erreichen wir den Ghost Reservoir Lake. Hier gibt’s auch einen Campplatz. 20$ pro Site. Sehr teuer für ein nicht so sauberes Plumpsklo und einen kaputten und dreckigen Tisch. Zahlen optional und eine Frage des Willens oder des Rangers. Und der Letztere taucht nicht auf.
28.08.2012. Die Temperaturen sind hier merklich wärmer als in den Bergen. Nach einem Frühstück im Sonnenschein geht die Fahrt bei strahlend blauem Himmel weiter. Nach knappen 20 km folgt eine „Important Intersection Ahead“. Alvaro und ich haben in den letzten Tagen viel Zeit miteinander verbracht, so wird der Abschied bei einem Kaffee noch hinausgezögert. Dann ist es aber soweit. Wir fahren zurück zur wichtigen Kreuzung, ein letzter Blick, ich fahre gerade aus, Alvaro biegt nach rechts ab. Eine ziemlich emotionale Angelegenheit. Aber ich darf gleich knappe 10 km den Berg hochfahren, das hilft, bis ich ein goldgelbes Felderplateau erreiche, wo es ziemlich hügelig weitergeht.
Doch ich habe tatsächlich Rückenwind. Sonnenschein, Rückenwind und Spuren von ein paar Tränen im Gesicht. Was für eine Mischung. Und nun bin ja zum ersten Mal alleine unterwegs. Ich komme gut voran und fühle mich plötzlich total frei. Ein gutes Gefühl. Gegen 16 Uhr erreiche ich Sundre. Bei der Shell Tankstelle fülle ich Wasser nach, zudem gibt’s einen Kaffee. Der ist ziemlich kalt. Dafür gibt’s umsonst einen neuen, minim wärmeren. Draussen bestaunen mich zwei zahnlose, ältere Herren. Bei der Visitor Information nebenan frage ich aus Neugier nach der James River Bridge Recreation Area, die in ca. 15 km folgen sollte. Die junge Dame muss auch zuerst nachfragen, doch die Rec Area soll gleich neben der Strasse sein. Gut. Als ich wieder rauskomme, liegt mein Rad am Boden. Ständer gebrochen. Schon wieder. Der ist nicht für ein vollbepacktes Bike gedacht. Na ja. Ich nutze den guten Rückenwind und fahre weiter. Hügel um Hügel. Nach 118 km wird die James River Bridge Rec Area ausgeschildert. 3 km von der Strasse weg und geschlossen. Tja. Ich fahre mal nach rechts in die Seitenstrasse, dann nach links. Bei einer nahen Farm sehe ich einen Traktor auf dem Feld herumfahren. Ich fahre hin und frage den älteren Herrn, ob ich campen darf. Wo immer ich will. Danke! Ich stosse mein Rad zum Waldrand.
Später kommt der Herr wieder, ob ich nicht beim Haus zelten möchte. Das ist nett gemeint, doch ich habe schon alles ausgepackt und fühle mich wohl hier zwischen den Heuballen, wo es bald feucht wird. Zudem soll es in der Nacht regnen, meint der nette Herr. Da könnte er recht haben, denn bald zieht eine schwarze Wolkenwand von den Rockies her ins Land. Ich essen den restlichen Reis vom Vorabend, dann versuche ich, meine Gedanken und Gefühle etwas in Ordnung zu bringen. Seit einem Wiedersehen im Frühling freue ich mich auf einen weiteren Besuch in Edmonton bei meinem guten Freund Ian, den ich vor 2 Jahren in Bolivien kennengelernt hatte. Doch in den letzten Tagen wurden einige Dinge wohl etwas durcheinander gebracht.
29.08.2012. In der Nacht folgt dann das angesagt Gewitter. Lange regnet es heftig. Doch um die Aufstehzeit ist es wieder still. Na dann, ich packe das nasse Zelt zusammen, hole bei der Farm Wasser und mache mich auf den Weiterweg. Der Wind, der mich gestern so schon angeschoben hatte, bläst mir nun voll ins Gesicht. Mal direkt von vorn, mal mehr von der Seite. Nordwestwind. Der soll hier ja vorherrschend sein. Und ich hatte mich schon auf ganz viel Rückenwind gefreut. Daraus wird wohl nichts. Bald biege ich in Richtung Osten ab.
Viele Wege führen nach Edmonton, die Strassenauswahl ist ziemlich gross. Eigentlich wollte ich den Highway 766 nordwärts nehmen. Doch das Bedürfnis nach einem Kaffee lässt mich umentscheiden. Ich werde auf dem 781 nach Sylvan Lake fahren. Dort gibt’s spätestens irgendwann am Nachmittag ein braunes Gebräu. Doch das Warten hat ein viel früheres Ende. In Spruce View hat’s eine Tankstelle. Dann geht’s heute ziemlich flach weiter, doch der Wind bremst mich ab. In Sylvan Lake fülle ich Wasser nach. Von Westen her zieht wieder ein schwarze Wolkenwand ins Land. Hm? Zelt und Schlafsack sind ziemlich nass. Vielleicht sollte ich stoppen, um das Ganze vor dem nächsten Regen immerhin etwas anzutrocknen. Gleich nach Sylvan Lake folgt der Jarvis Bay Provincial Park Campground. Eine Site kostet 23$. Kein Rabatt für einsame Ciclistas und Site-Hitchen kostet auch 23$. No way! Ich mache kehrt und fahre weiter. Bald fallen ein paar Tropfen. Kurz nach Bentley suche ich nach einer Farm. Da ist jemand auf dem Feld am Arbeiten. Das ist immer gut. Ich fahre hin, winke dem Mann im Traktor zu. Er steigt runter, ich frage, ob ich mein Zelt hier aufstellen darf. Er sei gleich mit der Arbeit fertig und könne mir einen schönen Ort am Fluss zeigen. Hört sich gut an. Ich fahre zum Haus, dann begleitet mich Dan runter zu einem ruhigen Feld am Flüsschen. Perfekt. Ich stelle mein Zelt auf, packe meine Schachen rein, als der Buggy nochmals vorfährt. Es ist Dan’s Frau Colleen. Sie ist total aufgeregt und fragt, ob ich auf einen Teller Spaghetti raufkommen möchte. Ich bin ja kocherlos, das sage ich gerne zu. Ich räume noch kurz alle Sachen ins Zelt, dann fahre ich zum Haus. Colleen erwartet mich schon. Ob ich duschen wolle. Nun, auch da sage ich nicht nein. Sauber und frisch setzte ich mich danach an den gedeckten Tisch. Wow! Colleen ist total neugierig und hat tausend Fragen zu meiner Reise. Sie findet es auch extrem cool, dass ich genau ihre Farm ausgesucht haben. Nun, ich auch… Wir kommen auf „Parts“ zu sprechen, ich meine, dass mir gestern der Ständer gebrochen ist. Dan könne schweissen. Nun, das Problem liegt diesmal woanders, aber Dan schaut sich den Ständer in der Werkstatt an und findet eine Lösung, wie er zumindest für eine Weile wieder hält. Echt super! Dann schwatzen wir noch lange und die beiden bieten mir an, im Haus in einem Bett zu schlafen. Sehr nett, doch mein Zelt steht ja schon. Und ich schlafe gern im Zelt. Colleen begleitet mich noch runter zu meinem Heim. Was für ein Abend und was für nette und grosszügige Leute. Ich bin wieder einmal tief beeindruckt. Solche Erlebnisse machen diese Reise so einmalig. Vielen Dank Colleen und Dan!
30.08.2012. Colleen möchte mir am Morgen auch noch Frühstück machen. Toast, Spiegeleier, Speck, Käse, Früchte, Gemüse und Kaffee anstelle kalter Avenas. Que bueno! Zudem gibt mir Colleen ganz viele leckere Sachen mit auf den Weg. Selbsgebackener Bananen-Heidelbeerkuchen, Nüsse, Schokolade, eine riesige Tomate aus dem Garten. Sie will mir noch mehr geben, doch ich habe wirklich keinen Platz mehr. Mit dem Essen kann ich noch tagelang rumfahren. Nun schaut auch noch Colleen’s Tochter mit ihren zwei Kids vorbei. Auch sie möchte mich noch gerne treffen. So verabschiede ich mich erst gegen 10.30 Uhr von diesen herzlichen Gastgebern. Die Sonne strahlt, es bläst noch fast kein Wind. Auf dem Highway 771 mache ich mich auf den Weg in Richtung Norden. Diese Strasse ist sehr ruhig, fast ohne Verkehr. Angenehm. Bald wird sie viel hügeliger, mit langen steilen Steigungen. Dann wechselt der Belag zu Schotter. Tiefer Schotter, mein Hinterrad bricht immer wieder aus. Immerhin sind die wenigen Autofahrer hier nett und bremsen anständig ab.
Dann ist die Schotterstrecke auch wieder vorbei. Das heutige Frühstück hält extrem lange hin, ich habe erst gegen 14 Uhr wieder Hunger. Auf einem Feld mache ich Mittagspause. Ich esse Colleen’s saftige Tomate und zum Dessert gibt’s Kuchen. Was für ein leckerer Luxus! Langsam ziehen Wolken auf und nun frischt auch der Wind auf. Nordwestwind. Ich fahre über zig weitere Hügel, vorbei an Farmen und Kühen. Bald fahre ich entlang des Pigeon Lakes. Hier gibt’s Campingplätze, doch ich frage nicht mehr nach dem Preis. Eigentlich wollte ich noch einen weiteren Tag in der Gegend rumkurven, meinen Gedanken noch etwas mehr Lauf lassen und Essen habe ich ja auch genug, doch nach erneutem Kartenstudium gibt’s irgendwie nichts Interessantes mehr zum Rumkurven und so langsam habe ich das flache Farmland auch gesehen. Also fahre ich doch morgen nach Edmonton. Das heisst nun aber, dass ich heute noch einige Kilometer fahren sollte. Die Strasse wird flacher, doch der Seitenstreifen ist kaum noch befahrbar. In Thorsby fülle ich bei einer Tankstelle Wasser nach. Nun noch weiter. Auf dem Highway 39 geht’s mit viel Verkehr in Richtung Osten. Es ist nach 18 Uhr, langsam sollte ich nach einem Schlafplatz Ausschau halten. Ich halte bei einer Farm. Auto vor der Tür, doch niemand da. Also weiter. Ich halte nochmals. Nun steht kein Auto vor der Tür, doch auf mein Klopfen an der Haustür macht jemand auf. Tracy. Selbstverständlich kann ich im Garten zelten. Und ob ich duschen wolle. Nach dem Schotter eine Wohltat. Dann fragt Tracy, ob ich Hunger habe. Danke, ich habe noch ganz viel Essen. Aber sie gibt mir noch zwei Gurken aus dem Garten. Irgendwie komme ich in Edmonton fast mit mehr Essen an, als ich in Banff losgefahren bin. Die Farmleute Albertas bekommen auf jeden Fall eine Note 6!
31.08.2012. Der Monat August ist einer der wenigen Monate, in welchem es zwei Vollmonde zu sehen gibt. Der erste war am 1. August zu sehen, der zweite wird morgen am 31. August den Himmel erleuchten. Ein spezielles Ereignis. Es ist noch einen Tag zu früh, aber ich krieche nachts aus dem hell beleuchteten Zelt und bestaune die runde Kugel. Wie man sich manchmal richtig klein und unbedeutend fühlen kann.
Später in der Nacht regnet es dann, doch am Morgen scheint wieder die Sonne. Ich packe das nasse Zeug zusammen. Meine „Gastgeber“ sind schon weg, so mache ich mich ohne „Dankeschön“ wieder auf den Weg in Richtung Osten. Nun habe ich hier vollen Gegenwind. Der Wind kann hier also wirklich von allen Seiten blasen. In Calmar möchte ich bei der ersten Tankstelle einen Kaffee trinken. Gleichzeitig stürmt Tracy zur Tür rein, lässt auch einen Kaffee raus. Dann ist sie auch schon wieder verschwunden. Und mein Kaffee bezahlt. Danke! Ich fahre noch etwas weiter ostwärts, dann geht’s auf dem Highway 60 in Richtung Norden. Nach Devon wird die Strasse vierspurig und der Verkehr nimmt massiv zu. Steil führt die Strasse zum North Saskatchewan River runter, auf der andern Seite wieder steil hoch. Nach einer Weile erreiche ich den Highway 16A, der führt mich nun mit viel Verkehr ins Zentrum von Edmonton.
Wann musste ich das letzte Mal so konzentriert durch eine Grossstadt fahren? Keine Ahnung. Aber ich finde mich gut im Großstadtdschungel zurecht. Und dann bin ich am Ziel. Einfach so, zack bum stehe ich vor dem Haus. Bald folgt eine scheue, zurückhaltende Begrüssung. Ein komisches Gefühl, obwohl wir uns im Frühling erst gesehen hatten. Hatte ich mir das Wiedersehen anders vorgestellt? Nun, ich stelle mich erstmal unter die Dusche, dann fühle ich mich frischer. Es bleibt noch Zeit für einen Kaffee, dann ruft Ian’s Arbeit. Und ich bin wieder mit mir und meinen Gedanken allein. Der Sortiervorgang läuft immer noch auf Hochtouren. Ich werde nun sicher einige Tage hier verbringen, mal sehen ob das hilft. Doch dann werde ich wohl noch einen Plan für die restliche Zeit in Kanada entwerfen müssen, denn bis zum 1. Oktober, dem Abflugdatum nach Madrid, dauert es noch ewig, wie ich eben feststelle…
Hinterlasse einen Kommentar